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Die Religion
Nach offiziellen Angaben sind 90% der Brasilianer katholisch.
Nach Aussagen der Brasilianer sind sie katholisch und noch viel mehr.
Afro-Brasilianische Kulte wie etwa der Condomblé erobern immer
größere Gebiete. Längst sind es nicht mehr nur die Schwarzen,
die sich Karten legen lassen und ohne den Ratschlag der Weissagerin nicht
aus dem Haus gehen. Selbst Politiker und Banker treffen wichtige Entscheidungen
erst nach Absprache mit dem Medium.
Die evangelischen Bewegungen, manche würden sie abfällig
Sekten nennen, aber sind noch viel interessanter. Vor allem für einen
Europäer, der die gleiche (?!) Kirche ja zu Hause vor Ort hat.
Wo findet man sonst Jugendliche in meinem Alter, die bereits jetzt ihre Vergangenheit
als schamhaft und sündenhaft bezeichnen, die den ganzen Tag einen dieser
religiösen Radiosender hören, die nichts anderes als Wunder,
Kirchengesänge (mehr poppig aber) und Predigten bringen?
Wie hat man sich einen Gottesdienst, genannt 'culto', vorzustellen?
Da gibt es Eingangsgesänge, Predigten, Segnungen und Gemeindelieder.
Nur halt anders (und das drei Stunden lang).
Eben noch ganz stille Menschen fangen bei den Worten des Predigers
und vor allem der Sängerin an, laut mitzusprechen. Nein, eigentlich
schreien sie, Amen, Halleluja, vergib uns Herr, wir sind das Licht. Die
Arme werden emporgerissen und heftig im Rhythmus der Musik und der Predigerworte
hin- und herbewegt. Alles, was gesagt wird, wird in eigenen Worten wiedergegeben,
die Menschen fallen sich in die Arme, fangen an zu weinen. Vor Glück,
vor innerer Bewegung und vor Gott, der für alle fühlbar anwesend
zu sein scheint, es wird gemeinsam mit dem Prediger gelacht und dazu wird
das Ganze mit Filmkameras aufgenommen.
Vor Glück fallen sich die Menschen in die Arme, wildfremde und
Freunde. Weinend werden dem Liebsten die tiefsten Gedanken mitgeteilt,
man küsst sich. Die Augen sind krampfhaft geschlossen und der Nachbar
bekommt die innersten Regungen mitgeteilt. Die Hände werden zur Faust
geballt, einige versuchen sich in der Urschreimethode. Es wird applaudiert,
den Musikern, den Predigern und Gott. Wahrscheinlich auch sich selber,
das man hier anwesend sein darf.
Die Gefühle spielen eine sehr große Rolle, denn sonst
würde nicht mein Gastgeber, der sonst einer von der sehr stillen,
intelektuellen Sorte ist, so aus dem Häusschen geraten, dass ich äußerst
unwohl immer tiefer in meinen Stuhl versinke. Alle sind eine Gemeinschaft,
alle lieben sich, alle haben Verständnis füreinander (sowohl
die äußerst Armen, die in ihren besten Kleidern erschienen sind,
als auch die Reichen), alle gieren nach den Worten des Predigers.
Die ganze Zeit während des cultos fragte ich mich, was die Schwarzgekleideten zu tun haben,
die das Ganze jede vier Meter an der Wand stehend überwachten. Ob die
immer noch so friedlich sind, wenn einer mal nicht laut Amen, Abba (Gott)
oder Alleluya, sondern Fragen, Zweifel, Ängste ausschreit? Ob dann
nicht sofort der ganze Saal an dem Frevler Lynchmord begeht?
Die Musik also ist ein wenig wie ein Popkonzert aufgemacht. Gospels
und flotte Rhythmen reißen die Leute mit. Die Sängerin muss
sich großartig fühlen, so viel Macht über die Menschen
zu haben. Auf ihr Geheiß werden die Arme hochgerissen, rennen die
Menschen nach vorne, schreien, was immer sie will.
Nur der Prediger hat noch mehr Macht. Er spielt auf der Bühne
richtiggehend Theater, macht Zwiegespräche von Gotteszweiflern und
Ängstigen mit den Erleuchteten nach. Mit einer Stimme, die mal krächzend,
mal tief, mal hoch, mal undefinierbar ist. Meist gipfelt das ganze in Schreien.
Ein Schreien, nach dem sich die Leute sehnen, in das sie vielstimmig und
am ganzen Leibe zitternd einstimmen. Vor allem, wenn ihnen die Hand des
Predigers auf den Kopf gelegt wird.
Ich selber fühlte mich dabei äußerst unwohl. Ich kenne
die Gebräuche nicht und wollte eigentlich auch gar nicht mitmachen.
Ich habe meine Religion in Deutschland und fand es sehr schwer, die
gleiche Religion so mit Gefühlen versehen kennen zu lernen.
So war ich der einzige, der auf seinem Stuhl sitzen blieb und nur zaghaft
meine Nachbarn umarmte.
So bin ich bestimmt auch in die Gebete vieler aufgenommen worden, die
mir Beistand wünschten für meinen sicherlich noch dornigen Weg
zu Gott, wie sie ihn gefunden haben, bzw. gehen.
So bin ich auch empfangen worden, als ich nachher dem Prediger bzw.
einem Assistenten vorgestellt wurde. Leider war es ein Schweizer, der zum
Zwei-Wochen-Predigen nach Rio gekommen ist und ich konnte mich nicht mehr
hinter meiner Sprachunkenntnis verstecken. Nicht mehr nur 'muito obrigado'
(Vielen Dank) sagen, wenn ich wieder mal gesagt bekam, wie gut es doch
wäre, dass ich heute hier bin, wieviel Glück ich damit hätte.
Wir sprachen also auf deutsch über Gott und die (meist schlechte)
Welt - ein Glück hat man den Carnaval mit all seinen Schlechtigkeiten
und Sünden gerade überlebt. Ich wurde sofort gefragt, ob ich
nicht dieses und jenes mitmachen möchte, nicht die Fackel werden möchte,
um Licht in die Dunkelheit meiner unwissenden Freunde zu bringen, wo ich
denn die vergangenen vier Tage seit meiner Ankunft verlebt hätte,
warum ich nicht bereits vier Mal in der Kirche war - ja, es gab jeden Abend
dieses Massenglücksgefühl.
Er erzählte mir mit leuchtenden Augen davon, dass Gott immer noch
auf der Erde wandle, dass er immer noch Wunder tue. Er selbst habe zwar
keine gesehen, aber ihm sei berichtet worden, wie während seiner kurzen
Abwesenheit Blinde sehend und Lahme gehend gemacht wurden. Und dass ich
auf jeden Fall ab jetzt immer kommen muss.
Abschließend sollte ich die Augen schließen und seinem
Gebet lauschen, welches sehr emotionell, schier schreiend vorgetragen und
von anderen Deutschkennern auch schreiend beantwortet wurde.
Wie stellen sie sich die Welt vor?
Wie lösen sie die Probleme der Welt. Betrete ich noch einmal diese
Kirche?
Wie werde ich im Endeffekt diesen culto bewerten, in dem ja eigentlich
nur die Bibel, teilweise wörtlich in die Tat und das Fest umgesetzt
wurde, was auf einen 'kühlen' Europäer so befremdlich wirkt?
Wie wollen sie diese Art von Gottesdienst nach Deutschland bringen
(das nächste Expansionsprojekt nach der Eroberung der Schweiz)?
Wie können sich die Menschen, nachdem sie - beneidenswerterweise
- so frei und emotionell und tief ihr Innerstes vor der Familie, vor dem
Partner, vor Wildfremden nach außen gekehrt haben, immer noch in
die Augen schauen, ohne unangenehm berührt zu sein?
Werden sie ein Fluch oder ein Segen für uns sein?
Das alles blieb an diesem Abend, dem Aschermittwoch, dem 28.2.2001
unklar.
Nachtrag:
Eine alltägliche (??) Geburtstagsfeier (??).
Da treffen sich vier Jugendliche abends zu Hause und reden ein wenig, zumeist
über die gerade genossene Predigt. Irgendwann fängt einer an,
die Bibel durchzustöbern und Passagen laut vorzulesen, die sofort mit
einem lautem Halleluja und Amen und wahr ist's usw. beantwortet werden.
Irgendwann kniet das Geburtstagskind auf dem Boden, die Hände
der beiden Jungs auf dem Kopf, das Mädchen steht daneben, beide Hände
erhoben. Nun rasseln in einem Irrsinnstempo Gebete herunter. Alles, was ihnen
einfällt (ich muss zugeben, mir würde in einer ganzen Woche nicht so viel
einfallen). Es wird lauter und schneller. Dann ist die Ruuml;hrung so groß,
dass Tränen fließen.
Das Schöne daran war, dass hier vier Jugendliche, eine aus einer Favela,
einer aus der gehobenen Mittelschicht und die anderen beiden noch ein wenig
höher zusammenwaren und echte Gemeinschaft fühlten.
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