Amenecer en Manuel António


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Die Religion

Nach offiziellen Angaben sind 90% der Brasilianer katholisch.
Nach Aussagen der Brasilianer sind sie katholisch und noch viel mehr.

Afro-Brasilianische Kulte wie etwa der Condomblé erobern immer größere Gebiete. Längst sind es nicht mehr nur die Schwarzen, die sich Karten legen lassen und ohne den Ratschlag der Weissagerin nicht aus dem Haus gehen. Selbst Politiker und Banker treffen wichtige Entscheidungen erst nach Absprache mit dem Medium.
Die evangelischen Bewegungen, manche würden sie abfällig Sekten nennen, aber sind noch viel interessanter. Vor allem für einen Europäer, der die gleiche (?!) Kirche ja zu Hause vor Ort hat.
Wo findet man sonst Jugendliche in meinem Alter, die bereits jetzt ihre Vergangenheit als schamhaft und sündenhaft bezeichnen, die den ganzen Tag einen dieser religiösen Radiosender hören, die nichts anderes als Wunder, Kirchengesänge (mehr poppig aber) und Predigten bringen?

Wie hat man sich einen Gottesdienst, genannt 'culto', vorzustellen?
Da gibt es Eingangsgesänge, Predigten, Segnungen und Gemeindelieder.
Nur halt anders (und das drei Stunden lang).
Eben noch ganz stille Menschen fangen bei den Worten des Predigers und vor allem der Sängerin an, laut mitzusprechen. Nein, eigentlich schreien sie, Amen, Halleluja, vergib uns Herr, wir sind das Licht. Die Arme werden emporgerissen und heftig im Rhythmus der Musik und der Predigerworte hin- und herbewegt. Alles, was gesagt wird, wird in eigenen Worten wiedergegeben, die Menschen fallen sich in die Arme, fangen an zu weinen. Vor Glück, vor innerer Bewegung und vor Gott, der für alle fühlbar anwesend zu sein scheint, es wird gemeinsam mit dem Prediger gelacht und dazu wird das Ganze mit Filmkameras aufgenommen.
Vor Glück fallen sich die Menschen in die Arme, wildfremde und Freunde. Weinend werden dem Liebsten die tiefsten Gedanken mitgeteilt, man küsst sich. Die Augen sind krampfhaft geschlossen und der Nachbar bekommt die innersten Regungen mitgeteilt. Die Hände werden zur Faust geballt, einige versuchen sich in der Urschreimethode. Es wird applaudiert, den Musikern, den Predigern und Gott. Wahrscheinlich auch sich selber, das man hier anwesend sein darf.

Die Gefühle spielen eine sehr große Rolle, denn sonst würde nicht mein Gastgeber, der sonst einer von der sehr stillen, intelektuellen Sorte ist, so aus dem Häusschen geraten, dass ich äußerst unwohl immer tiefer in meinen Stuhl versinke. Alle sind eine Gemeinschaft, alle lieben sich, alle haben Verständnis füreinander (sowohl die äußerst Armen, die in ihren besten Kleidern erschienen sind, als auch die Reichen), alle gieren nach den Worten des Predigers.

Die ganze Zeit während des cultos fragte ich mich, was die Schwarzgekleideten zu tun haben, die das Ganze jede vier Meter an der Wand stehend überwachten. Ob die immer noch so friedlich sind, wenn einer mal nicht laut Amen, Abba (Gott) oder Alleluya, sondern Fragen, Zweifel, Ängste ausschreit? Ob dann nicht sofort der ganze Saal an dem Frevler Lynchmord begeht?

Die Musik also ist ein wenig wie ein Popkonzert aufgemacht. Gospels und flotte Rhythmen reißen die Leute mit. Die Sängerin muss sich großartig fühlen, so viel Macht über die Menschen zu haben. Auf ihr Geheiß werden die Arme hochgerissen, rennen die Menschen nach vorne, schreien, was immer sie will.
Nur der Prediger hat noch mehr Macht. Er spielt auf der Bühne richtiggehend Theater, macht Zwiegespräche von Gotteszweiflern und Ängstigen mit den Erleuchteten nach. Mit einer Stimme, die mal krächzend, mal tief, mal hoch, mal undefinierbar ist. Meist gipfelt das ganze in Schreien. Ein Schreien, nach dem sich die Leute sehnen, in das sie vielstimmig und am ganzen Leibe zitternd einstimmen. Vor allem, wenn ihnen die Hand des Predigers auf den Kopf gelegt wird.

Ich selber fühlte mich dabei äußerst unwohl. Ich kenne die Gebräuche nicht und wollte eigentlich auch gar nicht mitmachen. Ich  habe meine Religion in Deutschland und fand es sehr schwer, die gleiche Religion so mit Gefühlen versehen kennen zu lernen.
So war ich der einzige, der auf seinem Stuhl sitzen blieb und nur zaghaft meine Nachbarn umarmte.
So bin ich bestimmt auch in die Gebete vieler aufgenommen worden, die mir Beistand wünschten für meinen sicherlich noch dornigen Weg zu Gott, wie sie ihn gefunden haben, bzw. gehen.
So bin ich auch empfangen worden, als ich nachher dem Prediger bzw. einem Assistenten vorgestellt wurde. Leider war es ein Schweizer, der zum Zwei-Wochen-Predigen nach Rio gekommen ist und ich konnte mich nicht mehr hinter meiner Sprachunkenntnis verstecken. Nicht mehr nur 'muito obrigado' (Vielen Dank) sagen, wenn ich wieder mal gesagt bekam, wie gut es doch wäre, dass ich heute hier bin, wieviel Glück ich damit hätte. Wir sprachen also auf deutsch über Gott und die (meist schlechte) Welt - ein Glück hat man den Carnaval mit all seinen Schlechtigkeiten und Sünden gerade überlebt. Ich wurde sofort gefragt, ob ich nicht dieses und jenes mitmachen möchte, nicht die Fackel werden möchte, um Licht in die Dunkelheit meiner unwissenden Freunde zu bringen, wo ich denn die vergangenen vier Tage seit meiner Ankunft verlebt hätte, warum ich nicht bereits vier Mal in der Kirche war - ja, es gab jeden Abend dieses Massenglücksgefühl.
Er erzählte mir mit leuchtenden Augen davon, dass Gott immer noch auf der Erde wandle, dass er immer noch Wunder tue. Er selbst habe zwar keine gesehen, aber ihm sei berichtet worden, wie während seiner kurzen Abwesenheit Blinde sehend und Lahme gehend gemacht wurden. Und dass ich auf jeden Fall ab jetzt immer kommen muss.
Abschließend sollte ich die Augen schließen und seinem Gebet lauschen, welches sehr emotionell, schier schreiend vorgetragen und von anderen Deutschkennern auch schreiend beantwortet wurde.

Wie stellen sie sich die Welt vor?
Wie lösen sie die Probleme der Welt. Betrete ich noch einmal diese Kirche?
Wie werde ich im Endeffekt diesen culto bewerten, in dem ja eigentlich nur die Bibel, teilweise wörtlich in die Tat und das Fest umgesetzt wurde, was auf einen 'kühlen' Europäer so befremdlich wirkt?
Wie wollen sie diese Art von Gottesdienst nach Deutschland bringen (das nächste Expansionsprojekt nach der Eroberung der Schweiz)?
Wie können sich die Menschen, nachdem sie - beneidenswerterweise - so frei und emotionell und tief ihr Innerstes vor der Familie, vor dem Partner, vor Wildfremden nach außen gekehrt haben, immer noch in die Augen schauen, ohne unangenehm berührt zu sein?
Werden sie ein Fluch oder ein Segen für uns sein?
Das alles blieb an diesem Abend, dem Aschermittwoch, dem 28.2.2001 unklar.


Nachtrag:
Eine alltägliche (??) Geburtstagsfeier (??).
Da treffen sich vier Jugendliche abends zu Hause und reden ein wenig, zumeist über die gerade genossene Predigt. Irgendwann fängt einer an, die Bibel durchzustöbern und Passagen laut vorzulesen, die sofort mit einem lautem Halleluja und Amen und wahr ist's usw. beantwortet werden.
Irgendwann kniet das Geburtstagskind auf dem Boden, die Hände der beiden Jungs auf dem Kopf, das Mädchen steht daneben, beide Hände erhoben. Nun rasseln in einem Irrsinnstempo Gebete herunter. Alles, was ihnen einfällt (ich muss zugeben, mir würde in einer ganzen Woche nicht so viel einfallen). Es wird lauter und schneller. Dann ist die Ruuml;hrung so groß, dass Tränen fließen.
Das Schöne daran war, dass hier vier Jugendliche, eine aus einer Favela, einer aus der gehobenen Mittelschicht und die anderen beiden noch ein wenig höher zusammenwaren und echte Gemeinschaft fühlten.